MosGiTo fragt …
… Reisende mit Behinderung nach ihren Erfahrungen, Erwartungen und Wünschen an die Reisebranche.
Im zweiten Teil der Serie antwortet Raul Krauthausen, Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit und Gründer des Sozialhelden e.V., dem Verein, der u.a. wheelmap.org auf die Beine gestellt hat. Herr Krauthausen ist im Rollstuhl unterwegs – und das nicht zu knapp. Für seine zahlreichen Termine als Aktivist, aber auch zur Erholung, reist er im Schnitt 200 Mal im Jahr. Aktuell steht allerdings auch für ihn die Welt Kopf – Corona streicht ihm nicht nur zahlreiche Termine aus dem Kalender, sondern erfüllt ihn auch mit ernsthafter Sorge.
Das Interview wurde Anfang April 2020 geführt.
Herr Krauthausen, wie geht es Ihnen aktuell in dieser außergewöhnlichen Zeit?
Danke, mir geht es soweit gut. Ich bin wohl auf und passe auf mich auf. Sorgen mache ich mir vor allem um die seelischen und psychischen Folgen dieser Zeit für viele.
Zum Thema Sicherheit von Menschen mit Behinderung fällt mir direkt eine Problematik ein, die es in vielen Tourismusbetrieben in diesem Zusammenhang gibt. Es gibt ja leider immer noch viele Betriebe, die für Menschen im Rollstuhl nicht oder nur schwer zugänglich sind. Aber selbst in den Betrieben, die diesbezüglich bereits für Barrierefreiheit gesorgt haben, bleibt die Frage nach den Fluchtwegen vielerorts offen. Gerade in Frankfurt bin ich oft in Hotels, deren rollstuhlgerechte Zimmer sich im 20. Stock oder höher befinden – als Fluchtweg gilt offiziell eine Treppe. Würden Sie in so einem Hotel denn überhaupt übernachten oder stellen Sie sich die Frage lieber nicht, um Ihre Auswahl nicht noch mehr einzuschränken?
Ja, denn sonst könnte ich ja gar kein Gebäude mehr betreten. Ich hoffe natürlich, dass es im Ernstfall einen Evakuierungsplan gibt, in dem der Einsatz von “Evak-Chairs” oder Rettungstüchern vorgesehen ist.
Wie organisieren Sie denn – in „normalen“ Zeiten – Ihre Reisen: Wie wählen Sie Reiseziele aus und welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit Sie entspannt verreisen können?
Wenn ich privat verreise, spielen unterschiedliche Faktoren eine Rolle. Den größten Einfluss haben Freunde oder Familie – denn auch ich mache natürlich Urlaub nicht allein. Gruppenreisen spezieller Anbieter sind allerdings nicht mein Ding.
Prinzipiell lehne ich erstmal kein Reiseziel per se ab. Hilfreich sind auf jeden Fall aber Empfehlungen oder die Erfahrungen von befreundeten Rollstuhlfahrer*innen. Wichtig ist für mich, wie ich vor Ort von A nach B komme, das ist im Vorfeld schon gut zu wissen. Und einen Blick in die Wheelmap werfe ich auch gerne. 🙂
Viele meiner Reiseziele wähle ich aber nicht im eigentlichen Sinne aus, sondern sind beruflich notwendig. Am einfachsten ist es, wenn es große oder mittelgroße Städte sind, die einen großen Bahnhof mit funktionierenden (!) Aufzügen haben.
Ich reise fast ausschließlich mit dem ICE, weil ich dort mit meinem Elektrorollstuhl mitgenommen werde und es für innerdeutsche Reisen oder in die Nachbarländer die schnellste Variante ist. Die “Logistik” mit Rollstuhl am Flughafen kostet viel Zeit und Nerven und ich muss zudem auf einen manuellen Rollstuhl umsteigen, mit dem ich mich weniger mobil fühle. Allerdings ist für Reisen mit der Bahn eine Reservierung mit einigem Vorlauf wichtig: Ich empfehle für Bahnfahrten immer zwei Tage vorab bei der Mobilitätshotline der Bahn die Rollstuhlplätze zu reservieren und auch die Mobilitätshilfe. Spontanes Reisen ist schwer. Sonst komme ich mit meinem Elektrorollstuhl nicht rein, z.B. weil das Personal am Bahnsteig schon anderweitig verplant oder im Feierabend ist.
Liegt der Zielort nicht in der Nähe eines großen Bahnhofs nehme ich Fahrdienste in Anspruch, die die letzte Strecke überbrücken. Aber auch das muss frühzeitig organisiert werden.
Mit den Sozialhelden haben Sie sich und Ihren Mitstreitern eine Plattform geschaffen, über einzelne Projekte in vielfältigen Bereichen Inklusion und Barrierefreiheit voranzutreiben. Mehrere Projekte befassen sich mit dem Tourismus, u.a. wheelmap.org oder travelable. Welches Ziel verfolgen diese Projekte?
Wheelmap.org bietet Menschen mit Mobilitäteinschränkungen weltweit auf einer Online-Karte eine gute Orientierung, welche Orte zugänglich sind oder nicht. Die Zahl der Einträge wächst täglich, weil alle ihr Ortswissen beisteuern können – ich benutze sie in Berlin und auch in anderen Städten selbst sehr viel, wenn ich mal wo unterwegs bin, wo ich mich nicht so gut auskenne. Das Ziel von Wheelmap.org und auch dem Schwestern-Projekt TravelAble ist genau das: Mehr Mobilität und Freiheit unterwegs! Wir binden zusätzlich zu den über 1 Million Daten aus der Wheelmap- und OpenStreetMap-Community mittlerweile auch die Daten von Partnern ein, die weitere wertvolle touristische Informationen enthalten, z.B. die Strände von “Blue Flag Global”, Hotels von “Reisen für Alle”, “AXSMap” mit vielen Einträgen in den USA, “Jaccede” in Frankreich und viele mehr. Wir wollen, dass, egal, wo die Menschen die Wheelmap nutzen, sie überall rollstuhlgerechte Orte finden können. Dazu gehören übrigens auch rollstuhlgerechte WCs – so banal es klingen mag: zu wissen, wo die nächste rollstuhlgerechte Toilette ist, erhöht die Mobilität um ein Vielfaches!
Unsere langfristige Vision ist, dass Angaben zur Barrierefreiheit so selbstverständlich sind wie die Angaben von Öffnungszeiten für ein Restaurant. Gleichzeitig ist die Wheelmap daher auch eine dauerhafte Kampagne, um mehr Bewusstheit für Barrierefreiheit zu schaffen und transparent zu machen, wo noch Verbesserungen der Zugänglichkeit passieren müssen.
Unternimmt die Tourismusbranche selbst Ihrer Meinung nach zu wenig für Reisende mit Behinderung? Was würden Sie sich denn von der Reisebranche wünschen?
Für die Tourismusbranche sind meines Eindrucks nach Menschen mit Behinderung noch immer eine kleine Nischensparte und Barrierefreiheit selbst wird oft als “Luxus” dargestellt à la “Schaut mal, wir denken sogar an die Behinderten”. Ich würde mir generell daher zunächst wünschen, dass – wie in so vielen anderen Lebensbereichen – Menschen mit Behinderung als Mainstream der Gesellschaft betrachtet werden. Das ist allerdings auch ein strukturelles Problem und da hat die Politik zu lange gezögert und die Privatwirtschaft noch immer nicht ausreichend in die gesetzliche Pflicht genommen. Das betrifft auch die Reiseindustrie.
Eine weitere, echte Barriere, ist die Informationslücke zur Barrierefreiheit. Hier gibt es noch keine einheitlichen Standards, wie z.B. Angebote oder Orte im Internet nach welchen Kriterien beschrieben werden müssen, an die sich große und kleine Anbieter gleichermaßen halten. Als Reisende*r will ich mich ja nicht durch Unmengen von einzelnen Hotel-Websites wühlen, sondern will auf Filtermöglichkeiten und Listenansichten von gängigen Portalen vertrauen. Und dann wiederum sicher sein, dass die dort genannten Informationen auch mit der Realität vor Ort übereinstimmen. Bei den Hotelbetreibern fehlt ganz oft Wissen, welche Angaben für die erste Orientierung wirklich hilfreich sind – ein generelles “Barrierefrei” bringt mir nichts, denn barrierefrei bedeutet je nach Einschränkung etwas anderes. Andererseits überfordert sowohl Betreiber als auch Gäste eine ellenlange Liste von DIN-Norm geprüften Kriterien. Hier muss also eine clevere Lösung und ein guter Mittelweg her. Damit beschäftigen wir uns bei den Sozialhelden, z.B. im Projekt TravelAble aber auch generell in der Weiterentwicklung von Wheelmap und in der Semantik von verknüpften Daten.
Die Tourismusunternehmen, die sich bereits um Inklusion und Barrierefreiheit bemühen, sind oft kleine, von Idealisten geführte Betriebe. Aktuell kämpfen gerade Betriebe dieser Größe mit den Folgen der Corona-Krise. Auf der anderen Seite stehen aber auch viele große Leistungsträger und staatliche Stellen, die mit der Tourismusförderung beauftragt sind. Viele von ihnen unternehmen bisher wenig, um Barrierefreiheit im Tourismus voranzutreiben – jetzt droht dieses Thema hier weiter in den Hintergrund zu rücken. Was denken Sie, wie sollte die Branche in der aktuellen Situation mit dem Thema Barrierefreiheit umgehen? Wie könnten wir Sie in Ihrer Sorge um die Gesundheit vieler unterstützen – und was wäre Ihre Vorstellung für das Reisen mit Behinderung nach der Corona-Zeit?
Es ist in der aktuellen Situation verständlich, dass es in der Tourismusbranche momentan für die meisten Betriebe um oft sogar existenzielle Fragen geht und das Thema Barrierefreiheit erstmal in den Hintergrund rückt. Die gesundheitliche Prävention geht jetzt vor – auch viele Menschen, die eine Behinderung haben, gehören gleichzeitig zur Risikogruppe. Die Corona-Krise birgt vielleicht aber auch das Potenzial, dass der Gesellschaft bewusst wird, wie viele Menschen tatsächlich auf konkrete Informationen, hygienische Bedingungen und eine barrierearme Ausstattung angewiesen sind. Denn auch bei Hygiene und Barrierefreiheit gibt es einige Überschneidungen. Ich hoffe daher, dass wir das Thema bald wieder mit erneutem Schwung in Angriff nehmen können.
Vielen Dank, Herr Krauthausen, für Ihre Antworten.