Barrierefreiheit auf Knopfdruck – geht das, was KI-Anbieter versprechen, wirklich?
Künstliche Intelligenz war dieses Jahr in aller Munde. Ein Wunder, dass es nicht zum Wort des Jahres gekürt wurde. Immerhin auf Platz 4 hat es der „KI-Boom” geschafft.* Dieser Boom hat nicht Halt gemacht vor der Barrierefreiheit – zum Glück! Denn tatsächlich kann KI schon einiges leisten, was zu Verbesserungen für Menschen mit Behinderung führt.
Gutes Beispiel von KI und Barrierefreiheit
Beispiel: Be my eyes. Die App gibt es schon einige Jahre und bisher funktionierte sie so:
Ein blinder Mensch hat zwei Konservendosen vor sich und fragt sich, welche von beiden die Tomaten beinhaltet und welche die Kokosmilch. Er öffnet die App, lässt sich mit einem sehenden Menschen verbinden, der die App installiert hat, und zeigt diesem die beiden Dosen. Die sehende Person sagt: „Tomaten links, Kokosmilch rechts” und schon kann der blinde Mensch weiterkochen.
Mit Hilfe von KI können blinde Menschen nun die gleichen Infos bekommen, aber ohne sehende Menschen einzubinden – 24/7 und relativ zuverlässig. (Wobei ich von blinden Menschen gehört habe, dass sie das tatsächlich eher für die Tomaten-Kokosmilch-Kategorie nutzen würden und noch nicht für Medikamente oder ähnliches…)
KI und Leichte Sprache
Auch im Bereich der Leichten Sprache wird seit diesem Jahr KI eingesetzt. Prinzipiell sehe ich (und viele andere Übersetzerinnen) das positiv, denn so viele Texte, wie wir uns eigentlich in Leichter Sprache wünschen würden, kriegen wir gar nicht hin. Zeitkritische Infos sind sowieso schwierig, denn der bisherige Übersetzungsprozess ist bei Leichter Sprache relativ langwierig – mit einer Übersetzung innerhalb von Stunden, geschweige denn Minuten, darf man nicht rechnen.
ABER – und jetzt kommt das große ABER – ganz so einfach, wie einige Anbieter das propagieren („Leichte Sprache auf Knopfdruck”) ist es dann leider doch nicht, und zwar unter anderem aus folgenden Gründen:
- Texte in Leichter Sprache sind in der Regel keine 1:1-Übersetzungen vom Ausgangstext. Inhalt wird ausgewählt, evtl. wird weiter ausgeholt / Erklärungen ergänzt, die Reihenfolge wird verändert, u.v.m. All das tut der Übersetzer mit Blick auf unter anderem das verwendete Medium, den Zweck der Infos und die Aufmerksamkeitsspanne der Leserinnen.
- Texte in Leichter Sprache unterliegen nicht nur inhaltlichen Regeln, sondern auch gestalterischen – denn Lesen ist ja eine der Herausforderungen der Zielgruppe. Dazu gehört neben der passenden Schrift auch Bilder, die Orientierung schaffen und die Verständlichkeit auch für schlechte Leser ermöglichen sollen.
- Texte in Leichter Sprache werden nie von „Muttersprachlern” verfasst – und sollten deshalb zumindest von ihnen gegengelesen werden. Beim sogenannten „Prüfen” kommen Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zu Wort und geben klipp und klar Rückmeldung, ob ein Text wirklich leicht verständlich ist oder nicht.
Und so kommt z.B. auch die Bundesfachstelle Barrierefreiheit zu dem Schluss, dass die aktuellen KI-Tools für Leichte Sprache zwar diejenigen unterstützen können, die sich mit Leichter Sprache auskennen (i.d.R. Übersetzerinnen und Übersetzer), aber noch nicht für den Einsatz von Jedermann geeignet sind – und eben nicht „auf Knopfdruck” funktionieren.
Lesen Sie hier die Einschätzung mit Hintergrundinfos
Lesen Sie hier einen weiteren Artikel mit Vor- und Nachteilen von KI für Leichte Sprache
Und wenn Sie selbst mal ganz ehrlich sind: Welchen KI-generierten Text können Sie aktuell denn wirklich 1:1 für Ihre Arbeit, Ihr Marketing, etc. übernehmen, ohne vorher nochmal mit Ihrem Fachwissen einen Blick darauf geworfen zu haben? Und wenn das bei den Texten in Standard-Sprache noch nicht zu 100 % zuverlässig funktioniert – wieso sollten die Ergebnisse dann genau in einem Bereich, für den man bisher immer Experten gebraucht hat, besser sein?
Auch Internetseiten werden nicht auf Knopfdruck barrierefrei
Einen ähnlichen Anspruch wie KI-Tools für Leichte Sprache erheben auch sogenannten Overlay-Tools im Zusammenhang mit barrierefreien Internetseiten. Manche Anbieter versprechen, dass man sich die Mühe, eine ganze Internetseite barrierefrei zu programmieren, sparen kann, wenn man eine Sidebar mit bestimmten Optionen einblendet wie z.B. Kontrast und Vergrößerung. Auch hier kommen Experten zu dem Schluss: Diese Tools haben sicherlich ihre Berechtigung, ersetzen aber nicht die barrierefrei programmierte Seite.
Hier geht’s zum gemeinsamen Statement der Überwachungsstellen des Bundes und der Länder für Barrierefreiheit von Informationstechnik
Und so ist auch am Ende dieses (was die KI-Entwicklung angeht) rasanten Jahre nicht alles Gold, was glänzt, und Barrierefreiheit (leider!) noch nicht auf Knopfdruck zu erreichen…
* Auf Platz 3 ist übrigens ein Wort gelandet, dass ich im Zusammenhang der barrierefreien Kommunikation mindestens ebenso spannend finde: „leseunfähig”. Lesen Sie dazu gerne meinen Beitrag auf Linked-In.