Barrierefreiheit und Gendern – schließt sich das nicht gegenseitig aus?
Für die einen ist es ein leidiges Thema, das die Sprache verkompliziert, andere sehen darin die ultimative Lösung zur Gleichstellung aller Menschen – kaum jemand kommt aktuell am Thema Gendern vorbei. Im Bereich der Barrierefreiheit wird munter gegendert, denn man möchte hier Zeichen setzen. Alle Menschen sollen angesprochen werden, sich angesprochen fühlen – egal ob mit oder ohne Behinderung, egal welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen (bzw. ob überhaupt). Denn wir können ja nicht für die eine Minderheit kämpfen (indem wir Barrieren beseitigen) und dabei andere Minderheiten ausschließen…
Deshalb ist grundsätzlich also schon einmal klar: Wir sollten gendern. Aber ist denn das Gendern an sich überhaupt barrierefrei oder baut zum Beispiel ein Satzzeichen mitten im Wort nicht eher eine neue Barrierefrei auf?
Warum sollte Gendern ein Problem für die Barrierefreiheit sein?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns ansehen, wie aktuell gegendert wird.
- Indem nicht nur die männliche Form eines Wortes, sondern auch die weibliche genannt wird. Zum Beispiel im Vorwort einer Broschüre: “Liebe Leserinnen und Leser, …”
- Mit Hilfe von Wörtern, die kein Geschlecht ausdrücken, wie zum Beispiel “Team” statt “Mitarbeiter*innen”, “Mensch” statt “Mann/Frau”. In diesem Zusammenhang werden aktuell aber auch ganz neue Wörter geschöpft, die es vor wenigen Jahren noch gar nicht gab. Oft nutzt man damit eine Partizip-Form: Lesende, Teilnehmende, Studierende usw.
- Mit Hilfe von Sonderzeichen, die vor die weibliche Endung eines Wortes gestellt werden. Beispiele: Leser*innen, Leser:innen, Leser_innen, LeserInnen.
Und für wen sollten diese Möglichkeiten zu gendern ein Problem sein?
- Menschen mit Leseschwäche bevorzugen kurze Wörter – im Beispiel der Beidnennung der Geschlechter “Liebe Leserinnen und Leser” steht das längere Wort allerdings an erster Stelle.
- Menschen mit Lernbehinderung, aber auch viele weitere Menschen, verstehen neue Wörter nicht. Es kursiert die Geschichte, dass zwei Menschen auf einem Gehweg laufen und auf ein Schild stoßen – einer liest und fragt sich: Wer sollen denn jetzt schon wieder “Gehwegende” sein? Der andere stellt klar: Das ist nicht gegendert, es ist schlicht und einfach das Gehweg-Ende…
- Vorleseprogramme, die zum Beispiel für blinde Menschen Texte in Worte fassen, haben Schwierigkeiten mit Sonderzeichen mitten im Wort. Sie machen evtl. unnötige Pausen oder lesen das Zeichen vor – beides stört den Lesefluss.
Gendern, ja – aber verständlich!
Es kommt also darauf an, WIE gegendert wird. Welche Möglichkeiten bleiben mir denn, wenn ich möglichst verständlich gendern möchte?
Hier kommt eine aktuelle Studie von CAPITO ins Spiel. Untersucht wurde die Verständlichkeit beim Gendern nach verschiedenen Methoden, und zwar auf Basis von drei verschiedenen Personengruppen: Menschen, die die einfachste Variante des Deutschen benötigen, also Leichte Sprache (oder Sprachniveau A1). Menschen, für die es etwas schwieriger sein darf (Sprachniveau A2) und Menschen, die einfache Sprache benötigen (Sprachniveau B1).
Laut der Studie bleiben folgende Möglichkeiten zu gendern:
- Nennen Sie beide Geschlechter – in der Leichten Sprache allerdings die männliche (kürzere) Form zuerst. Beispiel: “Liebe Leser und Leserinnen, …”
- Nutzen Sie neutrale Begriffe, allerdings bekannte! Zum Beispiel ist “Team” oder “Mensch” bekannt, “Studierende” o.ä. nicht!
- Wenn Sie mit Sonderzeichen gendern möchten, dann mit dem Gender-Stern *, denn dieser wird von Menschen mit Sprachniveau A2 und B1 verstanden – für Menschen mit Sprachniveau A1 bräuchte es eine Erklärung des Sterns, aber dann ginge es auch für sie. Und Vorleseprogramme? Werden nach und nach angepasst. In den meisten Programmen wird der Gender-Stern schon gut vorgelesen – bzw. haben sich blinde Menschen, so wie Sehende, wohl schnell an den Stern mitten im Wort gewöhnt, wie Heiko Kunert, der Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehinderten-Verbands Hamburg in seinem Blog kommentiert.
In diesem Sinne:
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, liebe Leserinnen und Leser / liebe Leser und Leserinnen / liebe Leser*innen!