MosGiTo fragt …
… Reisende mit Behinderung nach ihren Erfahrungen, Erwartungen und Wünschen an die Reisebranche.
Im ersten Teil dieser Serie antwortet Anja Lehmann, die von Geburt an blind ist. Die Akademikerin lebt mit ihrem ebenfalls blinden Mann in Leipzig. Im Schnitt unternimmt Sie fünf Reisen pro Jahr – privat und geschäftlich motivierte Reisen, in Deutschland, Europa und der ganzen Welt.
Frau Lehmann, wann sind Sie zuletzt verreist?
Zuletzt waren mein Mann und ich über Silvester auf einer Rheinkreuzfahrt. Es ging von Düsseldorf nach Straßburg und zurück.
Ob „Sehens“würdigkeiten oder „Sights“ – Reisen wird von Sehenden oft ausschließlich damit verbunden, etwas Neues zu sehen. In der Tat werde ich als Beraterin der Tourismusbranche oft gefragt, warum blinde Menschen überhaupt verreisen, wo sie doch nicht sehen, was sie umgibt – weder im Heimatort noch auf Reisen. Was entgegnen Sie dieser Frage? Was ist Ihre Reisemotivation und wie nehmen Sie Urlaubsorte wahr?
Ich konnte noch nie sehen, reise aber seit meiner Kindheit sehr gerne. Jeder Ort hat seine ganz eigenen Geräusche und Gerüche. Als Dolmetscherin interessiere ich mich für die Menschen in anderen Ländern, aber auch für die kleinen Dinge des Alltags, z. B. öffentliche Verkehrsmittel nutzen oder einkaufen. Ich lasse mir sehr gerne das Angebot auf Märkten beschreiben. Außerdem mache ich Stadtführungen und besuche Museen. Sicher könnte man vieles auch über die Medien erfahren, aber wenn ich wirklich wissen möchte, wie es an einem Ort ist, dann muss ich selbst hinfahren. Darüber hinaus geht es mir aber auch so wie Anderen, die viel arbeiten. Im Urlaub möchte ich es mir fernab vom Alltag mal so richtig gutgehen lassen. Ich mache oft Wanderreisen und kann dann in der frischen Luft so richtig gut abschalten, und am Ende des Tages muss ich dann kein allzu schlechtes Gewissen haben, wenn ich mich mit den kulinarischen Angeboten meines Urlaubsortes verwöhnen lasse.
Wie organisieren Sie Ihre Reisen: Wie wählen Sie Reiseziele aus und welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit Sie entspannt verreisen können?
Oft reise ich mit speziellen Reiseveranstaltern, die gemeinsame Reisen für blinde und sehende Menschen anbieten. Die sehenden Teilnehmer zahlen dabei einen geringeren Reisepreis und stellen sich als Begleiter für blinde oder sehbehinderte Mitreisende zur Verfügung. Ich nutze zwei Anbieter regelmäßig und lasse mich oft von deren Katalog inspirieren. So kam ich z. B. zu einer Kultur- und Safarireise nach Swasiland. Aber es gibt natürlich auch Wunschziele, von denen ich gehört habe und die ich unbedingt besuchen will. Es war z. B. etwas ganz besonderes für mich, vor zwei Jahren nach einer anstrengenden Wanderwoche auf dem Jakobsweg zum ersten Mal vor der Kathedrale in Santiago de Compostella zu stehen und dort im strömenden Regen mit Dudelsackmusik empfangen zu werden.
Häufig besuche ich Freunde, von denen ich viele auch auf Reisen kennengelernt habe. Ich finde es schön, wenn sie mir das zeigen, was sie an ihrem Heimatort besonders mögen und revangiere mich gern mit meinen persönlichen Leipzig-Highlights.
Schließlich trifft sich meine reisebegeisterte Familie oft zu gemeinsamen Wochenenden an unterschiedlichen Orten, und manchmal bin ich auch für ein paar Tage geschäftlich unterwegs.
Es gibt nicht viel, das mich von einer Reise an einen interessanten Ort abhalten könnte, aber wenn irgend möglich, bin ich dankbar, wenn ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen und mich in meiner Unterkunft selbstständig orientieren kann.
Ein ebenfalls oft gehörter Satz in meiner Arbeit ist: „Ein blinder Mensch kommt doch ohnehin nie ohne Begleitperson.“ Deshalb wird vieles von vornherein gar nicht so gestaltet, dass sich ein blinder Mensch tatsächlich alleine zurechtfinden könnte. Wie schätzen Sie das ein? Und was empfehlen Sie touristischen Einrichtungen, was sie mindestens für blinde Gäste bereithalten sollten?
An einem fremden Ort ist die Orientierung für mich tatsächlich viel schwieriger als zu Hause, und ich nehme gerne Hilfe an, damit der Urlaub nicht zu anstrengend wird, aber es gibt immer noch viele Situationen, in denen mir keine Begleitperson zur Verfügung steht oder wir uns für eine Weile trennen. An vielen Orten wäre mir schon geholfen, wenn mich ein Mitarbeiter dorthin begleiten könnte, wohin ich muss, gerade wenn es keine besonderen Vorkehrungen gibt.
Leitsysteme mit Markierungen am Boden sind sehr hilfreich, wenn sie ganz klar sind und nur die wichtigsten Orte anzeigen, z. B. Treppen und Fahrstühle, Informationsschalter, Toiletten oder wichtige Anlaufpunkte.
In Hotels bitte ich meist um ein Zimmer in der Nähe von Treppe oder Fahrstuhl. Natürlich ist es optimal, wenn die Knöpfe im Fahrstuhl mit Brailleschrift markiert sind und die Stockwerke angesagt werden, aber wenn das Budget im Moment nicht für die Ideallösung reicht, gibt es auch einfachere Möglichkeiten. Ich habe z. B. mal in einem Gebäude gearbeitet, bei dem in jedem Stockwerk neben dem Fahrstuhl die entsprechende Nummer aus Holz aufgehängt war, eigentlich als Schmuckelement, aber ich wusste immer, dass ich auf der richtigen Etage angekommen war. Zimmertüren könnten in Brailleschrift oder auch einfach mit taktilen Zimmernummern beschriftet werden. Selbst wenn man als blinder Gast Schwierigkeiten hat, sie zu entziffern, kann man sich die Form merken und so das richtige Zimmer finden. Falls die Karte zum Öffnen der Zimmertür in eine bestimmte Richtung gedreht werden muss, kann man sie mit etwas Klebeband markieren oder eine kleine Ecke abschneiden. Ich freue mich immer, wenn mir das angeboten wird, auch wenn eine sehende Person das Zimmer mit mir nutzt. So sind wir unabhängig und nicht gezwungen, gleichzeitig ins Bett zu gehen.
Häufig werden mir in Hotels Behindertenzimmer angeboten, oder ich werde an öffentlichen Orten zur Behindertentoilette gebracht. Das ist immer nett gemeint, hat aber auch so seine Tücken, denn es ist gar nicht so einfach, sich in einem rollstuhlgerechten Bad zurechtzufinden, in dem alles etwas tiefer angebracht ist. Ich habe da schon einiges gesucht, und das Waschbecken ist dann auch nicht in der optimalen Höhe. Im Zweifelsfall müsste mir zumindest jemand kurz erklären, wo ich alles finde.
Bei Buffets, z. B. beim Frühstück, brauche ich auf jeden Fall Hilfe und freue mich, wenn mir das angeboten wird.
Meistens mache ich sehr gute Erfahrungen und empfehle Unterkünfte, in denen ich mich wohlgefühlt habe, auch gerne weiter.
In vielen Städten gibt es mittlerweile spezielle Stadtführungen für blinde Gäste und auch Museen bieten oft eigene „Tastführungen“ an. Nutzen Sie diese Angebote? Und was braucht es um diese Angebote herum, damit Sie sich tatsächlich auf die Reise dorthin machen?
Ich finde es sehr schön, dass sich immer mehr Stadtführer und Museumsmitarbeiter Gedanken darüber machen, was sie speziell blinden Gästen zeigen können und nutze diese Angebote sehr gerne. Da wir nicht immer in größeren Gruppen auftreten, finde ich es gut, wenn die Anbieter ab und zu spezielle öffentliche Führungen einplanen, idealerweise am Wochenende. Wenn so etwas langfristig angekündigt wird, kann man sich darauf einstellen und auch bei weiterer Entfernung eine Wochenendreise entsprechend organisieren. Optimal wäre dabei, wenn mehrere Angebote in einer Stadt kombiniert werden könnten und für Weitgereiste auch gleich Hotels vorgeschlagen würden, die sich gut auf blinde Gäste eingestellt haben. So könnte man z. B. morgens eine Stadtführung machen, in der Nähe des Zielortes Mittagessen und nachmittags noch eine Tastführung in einem Museum machen. Dann lohnt sich die Anreise ganz sicher. Vielleicht ist es auch möglich, in Zusammenarbeit mit der Selbsthilfe vor Ort Begleitpersonen zu organisieren, die bei der Orientierung und dem Weg von A nach B helfen können.
Manchmal nehme ich auch spontan an Stadt- oder Museumsführungen teil, bei denen dann natürlich nicht alles auf mich zugeschnitten sein kann. Aber auch in solchen Fällen habe ich schon sehr gute Erfahrungen gemacht: So hat mir eine Stadtführerin in Bamberg spontan unsere Route auf einem Tastmodell erklärt, an dem wir vorbeikamen, und ein Museumsführer auf der Wartburg hat während einer Familienführung auf Exponate hingewiesen, die ertastet werden durften. Ich finde es schön, wenn sich Stadt- oder Museumsführer darüber informieren, was vor Ort für blinde Besucher interessant und jeder Zeit verfügbar ist. Und schließlich sind gute Beschreibungen auch sehr viel wert!
Haben Sie Tipps für Servicemitarbeiter für den Umgang mit blinden Gästen?
Kommunikation ist alles! Wir sind eine sehr heterogene Gruppe und haben ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Am besten besprechen Mitarbeiter mit dem jeweiligen Gast, wie sie helfen können. Es ist für mich überhaupt kein Problem, wenn ich ein bisschen warten muss bis mich jemand irgendwohin begleiten kann. Mir ist nur wichtig, als Gast mit meinen Bedürfnissen ernst genommen zu werden. Sicher bringt die Organisation einer Reise für mich mehr Aufwand und Anstrengung mit sich als für jemanden ohne Behinderung und da können freundliche Servicemitarbeiter sehr viel zu einem entspannten und angenehmen Aufenthalt vor Ort beitragen.
Was wünschen Sie sich von der Reisebranche?
Offenheit für alle Gäste, auch die mit speziellen Bedürfnissen.
Vielleicht können sich die Profis auch etwas von besonders guten ehrenamtlichen Initiativen abschauen. So organisierte der örtliche Blinden- und Sehbehindertenverband zur Bundesgartenschau in Heilbronn ehrenamtliche Begleiter, die blinde Gäste vom Zug oder Hotel abholten und mit ihnen Zeit auf der Bundesgartenschau verbrachten. Dieses Angebot war ganz neu, wurde aber schon von einigen blinden und sehbehinderten Gästen begeistert angenommen.
In der Nähe von Leipzig findet jedes Jahr ein Wanderwochenende, die 7-Seen-Wanderung, statt. Dort bieten sich Mitglieder von zwei Wandervereinen als Begleiter für blinde und sehbehinderte Wanderer an. Eventuell könnte man touristische Angebote um so etwas herumplanen.
Und welche Reise ist Ihre nächste?
Ich freue mich jetzt auf eine Wanderwoche auf Teneriffa.
Frau Lehmann, ich danke Ihnen für das Gespräch!